Das halbe Gesicht von Radiatou (15) wurde durch einen riesigen, gutartigen Tumor entstellt, der inzwischen operativ entfernt wurde.
Im Juli berichteten wir über dieses junge Mädchen aus Togo, das an einem lebensbedrohlichen Tumor litt. Mithilfe der Ärzte von Mercy Ships und „Ein Herz für Kinder“ wurde Radiatou, 16, wieder gesund und glücklich. Eine Geschichte, die beweist, dass es sich immer lohnt, Gutes zu tun. Der Weg zu Radiatou Boukari führt über Schlaglöcher, die ganze Lkw-Reifen verschlucken. Vorbei an qualmenden Müllbergen, grunzenden Schweinen und Hühnern, deren Gefieder aussieht, als wäre ihr Besitzer mitten im Rupfen unterbrochen worden. Wir sind in Togo, Westafrika, einem der ärmsten Länder der Welt. Wir kehren zurück zu Radiatou, dem 16-jährigen Mädchen mit dem lebensbedrohlichen Gesichtstumor, über das wir im Sommer in BILD am SONNTAG berichteten. Der Bremer Arzt Dr. Lür Köper hatte Radiatou auf dem Hospitalschiff der Hilfsorganisation Mercy Ships operiert. Der Tumor war bereits in ihre Mundhöhle gewachsen, drückte ihr Auge nach oben. Sie konnte nur noch flüssige Nahrung zu sich nehmen. Sie wäre erstickt. Als wir sie zuletzt gesehen haben, war ihr Kopf in dicke Verbände eingewickelt, der Heilungsprozess ungewiss. Zurück in Deutschland hat uns ihr Schicksal nicht losgelassen: Hat sie die OP gut überstanden? Wie sieht sie heute aus? Ist der Tumor zurückgekommen? Radiatous Freudenschrei lässt die Hühner aufflattern: „Der Yovo“, so heißt der Weiße in Radiatous Sprache Ewe, „ist zurück!“ Radiatou wirft sich gleichzeitig lachend und weinend in unsere Arme und drückt so fest zu, dass uns die Luft wegbleibt. „Akpé kaka“, ruft sie immer wieder. Das heißt: „Vielen Dank.“ Wir sind überwältigt, wie schön sie aussieht. Aus dem verschüchterten Teenager, der kaum sprechen konnte und mit einer Hand stets den faustgroßen Tumor im Gesicht zu verbergen suchte, ist eine selbstbewusste junge Frau geworden. Das linke Auge ist noch leicht versetzt, aber die Wange nicht wie befürchtet eingefallen, eine Narbe ist alles, was an den Tumor erinnert. „Ich lerne jetzt Schneiderin. Und ob du es glaubst oder nicht: Ich kann ganz viel Fleisch essen. Und Apfelsinen. Davon habe ich jahrelang geträumt! Und ich kann schlafen. Und ich habe Freunde. Und ich habe keine Schmerzen mehr. Und, und, und . . . !“ Radiatou findet gar kein Ende, als sie von ihrem neuen Leben erzählt. Wir sind erleichtert. Hier, ein paar Kilometer nördlich der Hauptstadt Lomé, gibt es keine Straßenschilder, keinen Strom, kein fließend Wasser, kein Telefon, keine Post. Nur endlose rote Sandpisten. In einem Labyrinth aus schäbigen Hütten und quirligen Märkten suchten wir mit unserer Zeitung nach dem Mädchen. Die „Yovos“ mit den bunten Blättern in der Hand waren die Attraktion auf dem Marktplatz. Doch niemand erkannte Radiatou wieder. Kein Wunder, schließlich hatte sie sich jahrelang in ihrer Hütte versteckt – weil sie immer ausgelacht worden war. Nicht mal in die Schule traute sie sich. In Togo ist der Aberglaube sehr verbreitet. In jedem Dorf gibt es einen „Féticheur“, einen traditionellen Heiler, der mit den abenteuerlichsten Voodoo-Methoden mehr Unheil anrichtet als Heil bringt. Entstellte Babys werden nicht selten gleich nach der Geburt getötet. Radiatou galt als von bösen Geistern besessen. „Jeden Tag kamen Gaffer und haben mich gehänselt. Es war so schrecklich. Ich wollte sterben“, erzählt sie. „Ich musste ja nach draußen, um Wasser aus dem Brunnen zum Markt zu tragen.“ Dort verkaufte sie das schmutzige Nass. Es war ihr Lebensunterhalt. Heute umringt uns und Radiatou das halbe Dorf. Kinder kommen angelaufen, tanzen und lachen mit uns. Wir feiern ihr neues Leben. Ein Leben voll Hoffnung und Gesundheit. Dr. Köper, der uns wieder begleitet, untersucht sie: Der Tumor ist weg. „Ich hätte nicht erwartet, dass sie so gut aussieht!“, sagt der Mediziner überrascht. „Kommt mit, ich muss euch etwas zeigen!“, zerrt uns Radiatou ungeduldig an den Armen. Ihr größter Wunsch, Schneiderin zu werden – sie hat ihn sich erfüllt. Sie bringt uns zu einer Hütte mit Wellblechdach. Davor steht ein hölzernes Schild mit der Aufschrift „Haute Couture“. In einem Raum, etwa drei Quadratmeter winzig, setzt sich Radiatou hinter eine antike Nähmaschine und säumt ein Batikkleid. Nur: Bislang durfte Radiatou nur auf Probe arbeiten. Ihre Großmutter, bei der sie wohnt, seit ihr Vater vor einem Jahr gestorben ist und ihre Mutter sie verlassen hat, lebt von Almosen. Die umgerechnet 80 Euro für die dreijährige Schneiderausbildung kann sie nicht bezahlen. Wir beschließen, ihr mithilfe der BILD-Hilfsorganisation „Ein Herz für Kinder“ die Lehre zu finanzieren. Aber was ist eine Schneiderin ohne eigene Nähmaschine? Also fahren wir mit Radiatou in die Stadt. In einem indischen Straßenshop, in dem es Bügeleisen, Nägel und Kühlgeräte gibt, werden wir fündig: „Singer“ hat ihr die Chefin auf einen Zettel geschrieben. Wir kaufen also eine Nähmaschine der Marke Singer mit Pedalantrieb. Die beste, die es im Laden gibt. „Euch schickt der Himmel!“, sagt Radiatous Oma und weint, als wir zurückkehren. Das Mädchen selbst ist sprachlos. Wie ein Baby wiegt sie die Nähmaschine in ihren Armen. Voller Stolz baut Radiatou sie in dem einen winzigen Raum auf, den sie sich mit ihrer Oma teilt. Hier schlafen, essen, leben die beiden. „Und jetzt kann ich tatsächlich wieder schlafen“, kichert die Oma. „Radiatou schnarcht nicht mehr, seit der Tumor weg ist.“ Die Nähmaschine für umgerechnet 74 Euro garantiert der Familie ein besseres Leben. Radiatou kann nun Geld verdienen. Wir verbringen den ganzen Tag mit Radiatou, sie schenkt uns Wassermelonen und zeigt uns, wie man Wasserschalen auf dem Kopf balanciert. „Was denkst du, wenn du jetzt in den Spiegel guckst“, fragen wir sie. „Ich hab keinen, aber meine Cousine. Manchmal gehe ich hin, gucke hinein und denke: Ich bin schön! Endlich.“ Als wir uns verabschieden, laufen ihr Tränen über die Wangen. „Danke“, sagt sie auf einmal auf Deutsch. Das Wort hat sie bei der Übersetzerin erfragt. Und sie sagt: „Mein Leben ist toll. Die Leute kommen immer noch, um mich zu sehen. Aber diesmal bin ich das Wunder, nicht das Monster.“Danke, dass Sie nicht weggesehen haben
16.07.2012